Vom 9.-11. März 2012 fand in Tübingen das Frühjahrstreffen des Befreiungstheologischen Netzwerks statt. Dies soll ein kleiner Rückblick sein, der vielleicht Themen und Gespräche noch einmal ins Gedächtnis zu rufen vermag, für die die dabei waren, und denen, die nicht dabei sein konnten, einen Einblick vermitteln soll, wie das Wochenende verlief.

Inhaltliches Thema: Die Krise

Die Inhalte des Wochenendes wurden nicht vorher festgelegt, sondern in freier und partizipativer Form am Eröffnungsabend entschieden. Das Schlagwort der ‘Krise’ ging aus dieser Form der Themenfindung als eine Art roter Faden hervor, nicht nur als Überschrift, sondern auch als Verstehensmuster, von dem aus gegenwärtige politische Zusammenhänge gesehen und interpretiert werden. Entsprechend begann der Samstag mit einem Workshop zum Thema ‘Krise’ in Form eines Weltcafés: Jeweils drei Gruppen gingen an das Thema ‘Krise’ unter drei Aspekten heran.

1. Politisch&Persönlich

Eine erste Gruppe fragte nach individuellen und persönlichen Zugängen zum Thema. Hier wurde recht schnell von ‘multipler Krise’ gesprochen, also einem Geflecht aus ganz unterschiedlichen Krisen, das komplex und somit schwer zu kommunizieren sei. Als sicht- und erfahrbare Anzeichen dafür wurden Nationalismen und Rassismen („Pleitegriechen“) genannt, sowie ein ‘Klassenkampf von oben’ und die zunehmende Entsolidarisierung der Gesellschaft, mitverursacht durch die Austeritätspolitik der EU. Das Reden über die Krise wird einerseits dadurch erschwert, dass ihre Deutung oft ein abgeschlossener Diskurs unter Expert_innen zu sein scheint, andererseits wird die Berichterstattung der Medien als verfälschend, manipulierend und entpolitisierend wahr genommen. Als schwierig empfanden einige auch die eigene, relativ privilegierte Stellung in einem Land, das als Profiteur und Mitverursacher der Krise gesehen wird.

Hier stellt sich auch die Frage, wie in einer solchen Situation eine breite Mobilisierung möglich sein kann. Ein Vorschlag ist in diesem Zusammenhang, die eigene Verstricktheit, eigene Privilegien und Mittäter_innenschaft zu reflektieren. Andererseits wurde aber auch gefragt, wie sehr in einem Land in dem Leiharbeit, Hartz IV und zunehmende Prekarisierung seit Jahren weitgehend unkritisch hingenommen werden, sich auch ein Gefühl von Verharmlosung und Gewöhnung einstellt. In Form von Konkurrenz, Leistungsdruck oder Burnout bekommt das oft abstrakte Phänomen ‘Krise’ konkrete Gestalt und wird teilweise schmerzhaft persönlich erfahren.

2. Theologische Reflexion

Ein zweiter ‘Tisch im Weltcafé’ widmete sich der theologischen Dimension der Krise. Von einer vor allem ökonomischen und kapitalismuskritischen Perspektive aus wurden hier mit theologischer Sprache und biblischen Bildern Gegenentwürfe zur vorherrschenden Wahrnehmung gefunden. Den Gefühlen von Entfremdung, Zwang, Mangelverwaltung und Vereinzelung setzten wir ein Bewusstsein unserer Abhängigkeit entgegen, das Solidarität ermöglicht und nötig macht (Gal 3,28; 1 Kor 1). Weitere biblische Bezugspunkte, die in der Runde genannt wurden, waren die Berufungen der Jünger_innen, die Seligpreisungen und Weherufe oder die Vertreibung der Händler_innen aus dem Tempel (z.B. verbunden mit der Frage, was heute die Tempel sind). Die sprachliche und konzeptuelle Suche nach Alternativen wurde vielfach in Gegensatzpaaren ausgedrückt (Entfremdung vs. ‘Einwurzelung’ [Simone Weill], kapitalistischer Perfektionszwang vs. Fragment-sein-dürfen). In einem nächsten Schritt wurde versucht, die Logik dieser Dualismen selbst anzugreifen: Teilhabe an Reichtum ist kein Selbstzweck … uns nährt etwas anderes als unendliches Wachstum, nämlich zwischenmenschliche Solidarität … inwieweit trägt hier der befreiungstheologische Gedanke einer ‘Zivilisation der Armut’? Ein theologischer Schlüssel, der auf großen Anklang gestoßen ist, ist 1Kor 1,27 mit seinen Aussagen von den Schwachen, die ermächtigt werden und auserwählt sind, das Starke zu beschämen.

Schließlich wurden in einer dritten Runde das praktische Vorgehen bzw. Aktionsvorschläge diskutiert; deren Planung bestimmte das weitere Wochenende, ihr Charakter blieb (interessanterweise) nah am theologischen Setting. Ideen für Aktionen reichten von der Planung eines politischen Nachtgebets (‘Mobigebetes’) über ein ‘Pray-in’, Straßentheater, Flyer (10-Gebote des Konsums) oder die Ausarbeitung einer theologischen Stellungnahme, die z.B. als Schmuggelware in Gesangbüchern weiterverbreitet wird.

Bezug zu lokalen Themen

Ein Anliegen der Treffen des Befreiungstheologischen Netzwerkes ist es auch neben übergreifenden Themen den Bezug zu lokalen Initiativen oder Projekten herzustellen. Da dies erfahrungsgemäß in der Kürze eines Wochenendes sehr schwierig ist, so geschah dies durch die Unterbringung eines Großteils der Teilnehmenden in Tübinger Wohnprojekten. Zudem gab es einen kritischen Stadtspaziergang, der sich an ausgewählten Stellen mit der Rolle von Verbindungen in kolonialen und nationalistischen Bezügen auseinandergesetzt hat, einen Seitenblick auf die Geschichte der Universität Tübingen und die Juden geworfen hat und anschließend noch Einblicke in regionspolitisch interessante Geschichten und Gebäude gegeben hat.

Kampf und Kontemplation

Neben der Absprache konkreter Projekte und der theologischen Reflexion der Krise war ein wichtiger Bestandteil des Treffens die Möglichkeit zum Austausch über Glauben und die Frage nach der schwierigen Kombination von „Christ_in und links sein“. Eine intensive und offene Gesprächsrunde bot am Samstagnachmittag Raum für persönliche Geschichten; wie mit linken politischen Überzeugungen umgehen in einem konservativen christlichen Umfeld? Inwiefern kann diese Spannung fruchtbar sein, wann ist die Grenze erreicht? Wie den traditionellen Vorurteilen von links gegenüber institutionalisierter Religion begegnen? Und wie unsere eigenen Vorbehalte dieser Art in Einklang bringen mit unserer Art Glauben bzw Spiritualität? Auch das Bibelteilen, mit dem der Sonntag begann, zeigte, dass Aktion und Kontemplation bzw. Praxis und Glaube nicht voneinander getrennt werden können und sich eines vom anderen nährt.

Fazit

Standen bei der letzten Sommerschule (naturgemäß) Theorie und Reflexion im Zentrum, so hat sich der Fokus bei diesem Treffen wieder stark in Richtung Aktion verschoben. Idealerweise pendelt sich auf diese Weise ein gutes Gleichgewicht zwischen Theorie und Praxis, Spiritualität und Aktion ein. Und: War das Frühjahrstreffen ein Jahr zuvor noch bestimmt von Organisation, Koordination und Selbstverständnis, so scheint das Netzwerk nun einen Modus gefunden zu haben, wie Absprachen getroffen werden können und eine gemeinsame Aktion und Spiritualität gefunden und gelebt werden kann.

Das Fazit ist ein subjektives – für weitere Diskussionen, unterschlagene Punkte und Wochenendgeschichten, die noch erzählt werden wollen, fühlt Euch eingeladen, die Kommentarfunktion zu nutzen!

Siehe für weitere Informationen zu den Projekten und der politischen Ausrichtung der Wohnprojekte beispielhaft: http://www.schellingstrasse.de/schelling/.