Sehr geehrter Herr Gauck,

lesen Sie bitte weiter, um zu erfahren, warum wir Ihnen nicht schreiben und warum wir (feministische) Parteilichkeit für angebrachter halten als Ihre scheinbar lockere Moral.

Wir nehmen dabei Bezug auf Ihr Interview im Spiegel, auf das auf Spiegel Online am 3. März 2013 hingewiesen wurde (hier nachzulesen).

Als Befreiungstheologisches Netzwerk, dem evangelische und katholische Theologiestudierende, Vikare, Refrendar_innen, Promovend_innen, akademische und nichtakademische befreiungstheologisch interessierte Menschen angehören, sind wir wütend über Ihre Äußerungen. Sie greifen uns als Feminist_innen und profeministisch arbeitende Theolog_innen an.

Indem Sie sagten: „Wenn so ein Tugendfuror herrscht, bin ich weniger moralisch, als man es von mir als ehemaligem Pfarrer vielleicht erwarten würde“, benutzten Sie Ihre Rolle als ehemaliger Pfarrer zur Verharmlosung von sexuellen Übergriffen und andern Formen sexualisierter Gewalt.

Wir halten es für unangemessen, dass Sie Ihre Rolle als ehemaliger Pfarrer anbringen, um bittere Erfahrungen von sexuellen Übergriffen und Grenzüberschreitungen zu übergehen. Unseres Erachtens ist es nicht Ihre Aufgabe, sich als (ehemaliger) Pfarrer über begründete Forderungen zu stellen und sich dadurch in eine Position der Erhabenheit und Überlegenheit gegenüber Sexismus und sexueller Gewalt zu begeben. Dadurch reproduzieren Sie eine Form männlicher Herrschaftssicherung, die sich erhaben weiß gegenüber Belangen und Forderungen von Frauen* und allen Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden.

Ihre Selbstinszenierung als weniger strenger Pfarrer nutzen Sie so, um Feminist_innen und ihren Mitstreiter_innen die Solidarität zu verweigern.

Mit Ihrer Distanzierung von Ihrem ehemaligen Pfarramt gebrauchen Sie außerdem eine rhetorische Figur, die Sympathie der männlichen Leser_innenschaft erheischt. Das tun Sie, indem sie sich als scheinbar wenig dogmatisch bzw. moralisch gerieren – ein Image, das sich Kirchenleute in defensiver Lage gerne zu geben versuchen. In dem Zusammenhang, wie Sie es tun, zementieren Sie jedoch die jahrhundertealte Herabwürdigung des weiblichen Geschlechts. Damit bewegen Sie sich dem typischen Gestus männlich bündischen Verhaltens gemäß.

Sie verhalten sich daher nicht weniger moralisch, sondern folgen schlichtweg einer männerbündischen Moral.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff „Tugendfuror“ sich in eine historisch gewachsene Herabsetzung von Frauen einreiht und wie so oft zuvor ihrer Wut über Diskriminierung im Namen der Angemessenheit einen Riegel vorschieben will.

Woher nehmen Sie sich eigentlich das Recht, als Nichtbetroffener von sexistischen Übergriffen und Profiteur sexistischer Gesellschaftsstrukturen, darüber zu urteilen, ob von (un)angemessener Wut darüber gesprochen werden kann? Wir haben gelernt, behaupteter Objektivität nicht über den Weg zu trauen und stattdessen ihren male bias (ihre Prägung durch die privilegierte Perspektive eines Mannes) aufzudecken:

  • Indem Sie diese Wut als übertrieben darstellen, rechtfertigen Sie ihre „weniger moralisch[e]“ Haltung in dieser Auseinandersetzung. Nach dem Motto: wenn die zu laut schreien, dann muss ich mich auch nicht so gerecht denen gegenüber verhalten. Das ist absurd, aber gängige Strategie in der Abwehr von z.B. feministischen und antirassistischen Kämpfen. Man nennt das auch Ton-Argument (weil es den Hinweis auf den Ton, in dem gesprochen wird, benutzt, um das Gesagte abzuwehren).
  • Indem Sie also das Augenmerk darauf richten, wie die Debatte um alltäglichen Sexismus geführt wird, und weniger, worum es geht, drängen Sie die alltäglich mühevoll ans Licht geholten sexistischen Verhältnisse wieder in die Unsichtbarkeit zurück. Diese werden so erneut unkenntlich gemacht.
  • Indem Sie von Tugend sprechen, tun Sie so, als ginge es den Frauen um ein gutes oder schönes Leben (quasi als Sahnehäubchen on top), auf das sie getrost auch verzichten könnten. Sie verschweigen damit, dass es um Gerechtigkeit im Kampf gegen (strukturelle) Gewalt und (überlebens)notwendige Selbstverteidigung geht.
  • Indem Sie Wut und Selbstverteidigung der von Sexismus betroffenen Frauen und ihre Stimme in der Medienöffentlichkeit als „Tugendfuror“ bezeichnen, lenken Sie nicht nur den Blick von den Tätern und Profiteuren sexistischer Strukturen und Übergriffe ab. Stattdessen stellen Sie die angeblichen Verfechterinnen eines solchen „Tugendfurors“ als die eigentlich Übergriffigen hin, denen man selbst nicht mehr frei begegnen könne und denen Sie, Herr Gauck, zum Opfer zu fallen drohten. Eine solche Täter-Opfer-Umkehr gehört leider zu den „Klassikern“ der Versuche, die Benennung von Befürwortern und Profiteuren gewaltvoller gesellschaftlicher Verhältnisse zu verhindern.

Mit ihren Interviewaussagen haben Sie sich also gerade nicht in Zurückhaltung geübt, sondern einen Angriff auf emanzipatorische Kämpfe von Frauen um ihre Rechte als Frauen getätigt.

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen:

Weniger moralisch“ sein heißt in diesem Kontext weniger an der Seite der von Sexismus und sexualisierter Gewalt Betroffenen sein.

Weniger an der Seite der für ein gerechtes Geschlechterverhältnis Kämpfenden stehen heißt den Fortbestand sexistischer Strukturen und sexualisierter Gewalt zu stützen.

Deswegen, weil uns das so bekannt vorkommt, weil uns die Strategien männerbündischer Herrschaftssicherung zum Kotzen vertraut sind, schreiben wir Ihnen nicht. Deswegen, weil Sie mit Ihrem betont lockeren Umgang mit moralischen Urteilen in der Auseinandersetzung um Sexismus ganz und gar Partei ergreifen für diejenigen, die in bestehenden Verhältnissen profitieren, sind auch wir notwendig parteilich. Wir sehen uns solidarisch mit den Initiatorinnen der #Aufschrei-Debatte und unterstützen den offenen Brief, der hier zu finden ist.


*Als Frauen begreifen wir Menschen, die sich selbst als Frau bezeichnen und/ oder als solche gesellschaftliche Diskriminierung erfahren und/ oder sexistische Übergriffe erleben.