WFTL – Tagesberichte von Bernhard

Tag 1: Samstag, 5. Februar 2011

Nach einer schönen Eröffnungszeremonie, bei der ein Chor einzog und mit einer Meditation über Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit in das Forum einstimmte, und mit ihrer Präsentation bereits Teraanga (Gastfreundschaft), was das gute Zusammenleben von MuslimInnen und ChristInnen im Senegal charakterisiert, zum Ausdruck brachten.

Das Forum für Theologie und Befreiung begann heute mit zwei Einheiten: am Vormittag stand das „Gemeinsame Gut der Erde und der Menschheit“ im Vordergrund, wobei die Frage, wie die Religionen zur Erhaltung dieses Guts beitragen können aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wurde.
Der Brasilianer Luiz Carlos Susin, der zum Organisationskommitee des WFTL gehört, fragte, wie die gemeinsame Weisheit der Religionen, jenseits der Unterscheidung in „große“ und „kleine“ Religionen, in der Befreiungstheologie aufgenommen werden kann, und wie in der Vielfalt Gemeinschaft entstehen kann.
Mercy Amba Oduyoye brachte erzählerisch afrikanische religiöse Traditionen ein, besonders aus ihrer Heimat Ghana, und stellte provokativ fest, dass die christliche Rede von Gnade und Vergebung zu respektlosem Handeln gegenüber der Natur führen können, während in den afrikanischen Traditionen Respekt und Tabus dazu führen, dass die Umwelt nicht zu sehr strapaziert wird. Sie plädierte dafür, die spirituelle Seite der aktuellen Probleme wieder zu entdecken. Anhand der Vögel, die fröhlich durch unseren Konferenzraum flogen, erklärte sie: sie zeigen uns, dass sie schon vor uns hier waren!
Juan José Tamayo aus Spanien stellte demgegenüber in sehr systematischer Weise die Erklärung über das Gemeinsame Gut der Mutter Erde und der Menschheit vor, die von Miguel D’Escoto und Leonardo Boff der UNO vorgeschlagen wurde. Im Gegensatz zur Menschenrechtserklärung von 1948 hob er an dieser Erklärung ihren relationalen Charakter hervor, der sich das Prinzip des Guten Lebens / buen vivir im Gegensatz zur Tendenz, besser leben zu wollen auf Kosten anderer, zu eigen macht. Tamayo erkundete dann, inwiefern Religionen zur Verteidigung der darin enthaltenen Rechte der Erde und der Menschen beitragen können.

Als zweite Einheit am Nachmittag fand ein Podium über die aktuellen Kontexte und Herausforderungen für Befreiungstheologie statt, zu dem Diego Irarrazaval (Chile), Wai Man Yuen (Hongkong), Ulrich Duchrow (Deutschland), Dwight N. Hopkins (USA) und Sean Clearly (Australien) sprachen. Paulin Poucouta (Kamerun) war leider nicht persönlich anwesend, seine Thesen wurden aber eingebracht.

Die Frage von Sean Clearly „Is Church possible in Australia?“ brachte ein Gefühl zum Ausdruck, das angesichts der Realitäten von ökonomischer Ausbeutung, Ausschluss von MigrantInnen / Asylsuchenden, verschwenderischem Konsum und unaufhaltsamem Klimawandel, welche er in Ozeanien in unmittelbarer Nähe von „Nord-“ und „Südländern“ beobachtet, eine dauernde Anfrage auch für mich ist.
Ulrich Duchrow nannte als wichtige Quelle für Kulturen des Lebens, die die akkumulierend-„rational“-mechanische Logik der Gier und des Kapitalismus überwinden können, die Verheißung aus 1Kor 1, dass Gott das erwählt, was töricht in der Welt erscheint. Als konkrete Schritte fasste er die prophetische Kritik, die Errichtung gerechter Gesetzgebungen / Tora, aber auch den Widerstand gegen ungerechte Gesetze und Systeme und den Aufbau alternativer Gemeinschaften zusammen. Die Beobachtung, dass zuerst Religionskritik betrieben werden muss, bevor nach dem Beitrag der Religionen gefragt werden kann, erscheint mir ein wichtiger Schritt zu sein angesichts der kooptierten und Ungerechtigkeit legitimierenden religiösen Systeme.
Hoffnungsvoll endete Diego Irarrazaval seinen Vortrag, der die Utopie ins Spiel brachte, die immer zwei Schritte weiter sei als man gerade gegangen sei. Wozu sie nötig ist? Zum Weitergehen!

In diesem Sinne blieb auch für mich wieder einmal die Bedeutung dessen sichtbar, zu loszugehen und auf dem Weg die Utopie zu erschließen. Dies ist auch für mich hier wichtig, da sich manchmal die Haltung einschleicht, dass ich hier die Lösung und neuen Wege für Befreiungstheologie vorgekaut bekommen möchte, die ich dann nur noch nachmachen muss. Aber gerade das ist, wie ich meine, Befreiungstheologie nicht, die als Aktivität aus dem eigenen Kontext heraus die Richtung und das Engagement bestimmt. Auch für uns als Netzwerk sehe ich es daher immer wichtiger, dass wir unsere eigenen Schritte machen, und uns so unsere Welt erschließen. Was dieses Forum hier leisten kann, ist, Augen zu öffnen für Themen und Probleme, die bislang nicht im Blick waren und die uns alle angehen, Hoffnungen und Erfahrungen zu teilen und sich so auf dem Weg zu stärken, und gemeinsame Perspektiven zu entwickeln, wie von den verschiedenen Orten her, die gemeinsamen Herausforderungen angegangen werden.

Tag 2: Sonntag, 6. Februar 2011

Heute war ein bewegungsreicher Tag. Vormittags fuhren wir mit der gesamten Gruppe des Theologieforums auf die Ile de Gorée, die vor der Halbinsel von Dakar liegt. Diese kleine Insel war für über 300 Jahre der größte Umschlagplatz für SklavInnen: Schätzungen zufolge wurden über 20 Millionen SklavInnen von hier aus nach Amerika verschifft, und über 6 Millionen sind auf der Insel gestorben. In jedem Fall war sie die „Isle of no return“ für die AfrikanerInnen. Dass auf dieser Insel auch die älteste Kirche Senegals steht, weckt sehr gemischte Gefühle. Welch große historische Schuld, die an diesem Ort deutlich wird, ist nur schwer zu erfassen. Zugleich ist es traurig, dass sich die Machtverhältnisse und Abhängigkeiten nicht zu stark verändert haben.

Am Nachmittag wurde dann das Weltsozialforums mit einem großen Marsch durch das Zentrum Dakars bis zum Campus der Cheikh Anta Diop Universität, auf dem das Forum stattfindet, eröffnet, wo wir auch mitliefen. Die bunten Gruppen zogen mit Bannern, tanzend und trommelnd ein und boten einen guten Eindruck von der Vielfalt der Themen und Organisationen und Bewegungen.

Der Tag bot viele Möglichkeiten, persönliche Gespräche zu führen, verschiedene TeilnehmerInnen mit ihren Projekten und Ideen kennen zu lernen. So hörte ich über die Herausforderungen ökumenischer und engagierter Zusammenarbeit in Bolivien, von Erfahrungen des ganz jugen Forums für Theologie und Befreiung in Katalonien und von aktivistischen Theologinnen aus Kanada. Schön war auch, dass ich mit den HelferInnen wenigstens ein bisschen senegalesischen Kontakt habe.

Ab morgen gehen die Workshops los, worauf ich schon sehr gespannt bin.

Tag 3: Montag, 7. Februar 2011

Der erste richtige Tag des Weltsozialforums war v.a. durch ein beträchtliches Maß an Chaos geprägt. Die Raumeinteilungen für die verschiedenen Workshops und Veranstaltungen wurden erst in letzter Minute bekannt, das Tagesprogramm erschien erst Mittags, und die Orientierung auf dem riesigen Campus war auch keine leichte Sache. Trotz alledem konnten die Workshops, die das WFTL auf dem WSF angeboten hat, durchgeführt werden.
Davon nahm ich an zwei Veranstaltungen teil: eine Diskussion mit dem Titel „Africa’s turmoil: a healing response“, bei der verschiedene Probleme und Lösungsmöglichkeiten aus afrikanischen Kontexten besprochen wurden. Im Vordergrund stand das Thema HIV / Aids, was aus mehreren Perspektiven beleuchtet wurde, aber u.a. auch ökologische Themen wurden behandelt. Eine offene Frage in diesem Zusammenhang bleibt für mich, ob die Rede von Mutter Erde über romantisierende Vorstellungen hinaus eine Tragkraft erweist.

Ein zweiter Workshop unter Federführung des Spaniers Juan José Tamayo erkundete „ChristInnen und MuslimInnen gemeinsam auf dem Weg der Befreiung“. Dass bei diesem Podium ausschließlich christliche RednerInnen anwesend waren und nur über den Islam geredet wurde, fand ich sehr enttäuschend. Die Beiträge, die von der Situation im Senegal über konkrete Erfahrungen in Spanien bishin zu eher theoretischen Erkundungen über Christologie in der Perspektive sog. komparativer / vergleichender Theologie oder über gemeinsame Wurzeln und mögliche gemeinsame Themen lieferten dennoch ein sehr weitläufiges Feld. Tamayo provozierte mit der Formulierung, dass Befreiungstheologie bis vor kurzem ein christlich-okzidentales Ideologieprojekt gewesen sei. Seinen Beitrag empfand ich allerdings als ziemlich idealistisch und in diesem Sinne nicht sonderlich wegweisend. Viele Anfragen über den Platz von Machtstrukturen und kritischer Analyse deuteten darauf hin, dass sein m.E. etwas harmoniesüchtiger Ansatz noch nicht ein befriedigender Punkt für befreiende Theologie ist. (An dieser Stelle muss ich natürlich darauf hinweisen, dass auch ich mit meiner Position hier ein beträchtliches Maß an Interpretationsmacht habe, um die Diskurse zu repräsentieren; ich hoffe daher, dass andere TeilnehmerInnen des Forums ihre Stimme auch hier hören lassen werden!).

Im dritten Block nahm ich an einem Workshop des WSF teil und entzog mich den TheologInnen, die entweder über afro-brasilianische Traditionen oder über das Recht auf freie Bewegung, was von den Leuten vom ITP und anderen Gruppen aus Europa und Afrika organisiert wurde, austauschten. In einer recht akademischen Veranstaltung hörte ich etwas über die Relevanz Frantz Fanons im heutigen Afrika, wobei das Potential der Analyse kultureller Prozesse, v.a. im Blick auf die mediale und intellektuelle Machtkonzentration hervorgehoben wurde. Ein Algerier und ein Senegalese addressierten das überwiegend europäische Publikum mit ihrem Fazit, dass Fanon heutzutage auch in Europa von Bedeutung ist, wo die innere Kolonisierung sowie die Prekarisierung in Form von z.B. StraßenverkäuferInnen oder arbeitslosen AkademikerInnen massiv zunimmt.

Leider ist dies nur ein ganz kleiner Eindruck vom Weltsozialforum. Ich hoffe, dass ich in den nächsten Tagen noch mehr dort rein komme, was bei der Zerstreuung auf dem Campus nicht ganz leicht ist – mal sehen!

Man hört vielleicht heraus, dass ich mit dem heutigen Tag nicht sehr zufrieden bin, was die Workshops angeht. Mir fehlt zumindest auf den Podien ein bisschen das Feuer sowie die kritische Analyse und (Selbst-)Reflexion. Dafür bekommt diese in persönlichen Gesprächen einigen Raum und ich hoffe, dass diese Gespräche vertieft werden können. Und vor allem hoffe ich, dass noch mehr Austausch und gegenseitiges Anstacheln mit dem WSF passiert, damit die gute Idee des integrierten Theologie-Forums auch Wirkung zeigt!

Tag 4: Dienstag, 8. Februar 2011

Heute nur ein kurzer Bericht, weil es schon spät ist.

Auch heute waren Workshops des WFTL auf dem WSF. Das Chaos von gestern wurde leider noch etwas gesteigert, da morgens noch niemand wusste, wo die Workshops stattfinden würden. Inzwischen habe ich immerhin einen Grund dafür erfahren: es gibt einen neuen Direktor der Universität, der dem Forum weniger als halb so viele Räume zur Verfügung gestellt hat, wie ursprünglich vereinbart.

Nun ja – wir haben ganz nette Zelte oder auch einfach den Raum unter einem Baum besetzt und dort die Workshops abgehalten. U.a. durch dieses Chaos ist das Konzept der Verwebung von WFTL und WSF nicht so richtig aufgegangen: einerseits war es für die TheologInnen schwierig, andere Sachen zu machen, weil wir nicht richtig wussten, was passiert, andererseit wusste auch von unseren Workshops niemand sonst.

Theologie unterm Baum

Ich nahm an zwei Workshops teil: einer über die Frage „Religionen und Friede: Welche Theologie brauchen wir, um gemeinsam mit anderen Religionen für das gemeinsame Gut von Erde und Menschheit zu arbeiten?“, ein anderer unter dem Titel „Feministische Bildung für die Befreiung der Frauen“. Parallel wurden andere Workshops z.B. über Kritik des Kapitalismus, Indigene Weisheit, das Erbe des 2. Vatikanums, oder Basisgemeinden abgehalten.

Von den Impulsen des ersten Workshops war ich nicht sonderlich angetan, da im Bezug auf die Frage nach interreligiöser Zusammenarbeit m.E. noch nicht wirklich das Schema des liberalen Dialogs überwunden wurde. Stattdessen stellte José María Vigil aus Panama ein (um polemisch zu sein) idealistisches Schema vor, was schwammig von der gemeinsamen Goldenen Regel und einer nicht näher erläuterten Dialektik zwischen Wahrheit und Sünde in allen Religionen sprach. Die spannenderen Ansätze ergaben sich dafür in der Diskussion, in der herausgestellt wurde, dass die Frage nach Religionen und Frieden nicht mit Grundsatzerklärungen und der Suche nach abstrakten gemeinsamen Prinzipien (so wie es vielleicht auch das Projekt Weltethos darstellt?) angegangen werden soll – jedenfalls nicht, wenn es etwas mit Befreiungstheologie zu tun haben soll – sondern aus konkreten Erfahrungen, konkreter Praxis heraus erwachsen muss, und ein gemeinsames Ziel ins Auge fassen kann: das beständige Streben nach Gerechtigkeit. Möglicherweise ist es, wie der Brasilianer Erico Hammes einbrachte, notwendig, mehr Fragen zu formulieren, als Antworten, und mehr von dem auszugehen, was wir erhalten haben und dankbar teilen möchten, als was wir vorschnell glauben, gemeinsam zu haben.

Im Workshop über feministische Bildung ging es leider nicht viel über Bildung, dafür waren ganz unterschiedliche feministische Stimmen zu hören. In diesem Workshop – wie so oft in feministischen Veranstaltungen – empfand ich auch am meisten die Forderung nach einer anderen Praxis erfüllt, da ein angenehmes Zuhören, Theologie aus Geschichten und aus konkreten Erfahrungen und Analysen präsentiert wurde.

Zentralafrikanische Pastorin teilt ihre Erfahrungen

Einen feurigen Impuls gab Ada-Maria Isassi-Díaz, die von der Bedeutung der Analyse sprach, um (feministische) Ziele zu erreichen. Sie konzentrierte sich auf Formen der Unterdrückung, unter denen sie Ausbeutung, Marginalisierung, Imperialismus, Machtlosigkeit und Systemische Gewalt unterschied, die jeweils andere Herangehensweisen und Strategien benötigen. Wiederholt wurde in den Beiträgen deutlich, dass verschiedene Formen von Unterdrückung nicht gegeneinander ausgespielt oder hierarchisiert werden dürfen, sondern dass sie zusammen angegangen werden müssen.

Wieder hatte ich sehr gute Gespräche in den Pausen, unter anderem über konkrete Möglichkeiten gewaltfreier Kommunikation bei theologischer Arbeit oder über die Verbindung von Aktivismus und Theologie. Leider ist für mich diese Verbindung auf dem Forum noch nicht so richtig wahr geworden, da ich immer noch nicht so richtig weiß, was auf dem WSF eigentlich so läuft, aber zumindest konnte ich ermutigende Berichte erfahren, die ich hoffentlich mit dem Netzwerk teilen kann.

Tag 5: Mittwoch, 9. Februar 2011

Ein äußerst gemischter, aber in der Bilanz sehr positiver Tag: Heute war das WFTL wieder in eigenen Räumlichkeiten außerhalb des WSF. Am Vormittag fand wieder ein Podium statt, das für Arbeitsgruppen am Nachmittag die Richtung vorgeben sollte. Die 5 Vorträge des Podiums waren teilweise ganz interessant, aber manche fand ich eher kritisch: zum Beispiel präsentierte José Maria Vigil eine Auflistung von „neuen“ Paradigmen (feministisch, ökologisch, post-religional (d.h. Religionen überwindend, nicht Religiosität überwindend), und ein neues Paradigma des Zusammenhangs von Sprache und Realität), die mir nicht nur nicht neu, sondern auch in der Art der Präsentation als inhaltslose Aufzählung und nicht eingebunden in wirklich kontextuelles Theologietreiben erschien (mehr über Vigils Ansatz ist hier zu lesen – damit ich von anderen Meinungen überzeugt werden kann). Demgegenüber konnte ich der Idee des Katalanen Jaume Boutey von einer Prophetie ohne Macht, die u.a. von der Geschichte, von den Armen, aber auch von der Anerkennung einer „erwachsenen“ Welt her Theologie zu treiben vorschlug. Kochurani Abraham aus Indien stellte das Embodiment, die Verkörperung von Theologie, die vom Schmerz im Herzen beginnt, als theologisches Paradigma vor, das dogmatische und auch religiöse Grenzen überwinden kann und sinnliche Einheit wie auch prophetischen Ärger beinhaltet. Denise Couture, eine feministische Aktivistin und Dozentin aus Kanada, war die einzige, die sich um eine Reflexion unserer eigenen Praxis und des Bezugs zum WSF bemühte, wobei sie gegenüber manchen Formulierungen von Pluralismus eine Vorstellung von Multiplizität setzte, die anfragt, ob sich Pluralität in einer neoliberalen oder einer dekonstruktiven Weise gegenüber Macht und Hegemonie ausdrückt.
An den verschiedenen Beiträgen und auch den Anfragen wurde mir deutlich, wie schwierig es auch hier ist, sich zu verständigen, da so viele unterschiedliche „Sprachen“ und Anliegen aufeinander prallen. Angesichts der Enttäuschung mit manchen Beiträgen merkte ich, dass hinter einer vermeintlich konstruktiven Sprache auch Intentionen stecken, die ich nicht teilen kann oder bedenklich finde. Die Schwierigkeiten, die das bringt, und vor allem die Herausforderung, kein Misstrauen zu entwickeln, sind sicher auch etwas, was wir in unserem Netzwerk erleben, wo auch manchmal unterschiedliche Vorstellungen oder auch nur unterschiedliche Ausdrucksweisen neben einander stehen.

Am Nachmittag bildeten sich Arbeitsgruppen, die vor allem nach Sprachen aufgeteilt wurden, und aufkommende Herausforderungen für Befreiungstheologie und Ansätze dafür in den Blick nehmen sollten.
Ich arbeitete in einer englischen Arbeitsgruppe, an der auch Ulrich Duchrow, Jung-Mo Sung, Jörg Rieger und Kochurani Abraham mitarbeiteten, zum Thema Imperium; wir verständigten uns darüber wie wir das Imperium konzeptionell und empirisch greifen und überwinden können und stellten fest, dass wir die Formulierung „Option für die Armen“ mit einer klaren Positionierung gegen die imperialen Formen von Unterdrückung füllen müssen, damit diese nicht in ein rein karitatives Projekt oder in ähnlicher Weise in einen Pluralismus, der das neoliberale System stützt, abrutscht. Das Gespräch empfand ich als sehr bereichernd, v.a. weil wir bereits eine konstruktive Praxis entwickelten, bei der wir uns gegenseitig „ernährten“ mit den Erfahrungen, Gefühlen und Visionen, die wir von der Gerechten Welt Gottes haben.

Außerdem hatte ich auch heute wieder wunderschöne Begegnungen, v.a. mit anderen jüngeren TeilnehmerInnen: Natti aus Barcelona, die als Freiwillige im Institut Cristianisme i Justicia mitarbeitet, teilte ihre Erfahrungen mit ignatianischer Frömmigkeit, die in Auseinandersetzung mit den sozialen Realitäten wächst, Ezequiel aus Buenos Aires erzählte von seiner Arbeit im Centro Nueva Tierra, das u.a. Basisgruppen vernetzt und bei politischer Bildung unterstützt, und ganz begeistert war ich, dass seit heute drei französischen MuslimInnen zu uns gestoßen ist, die mit ihrer Gruppe Baraka verschiedene Sachen machen wie mit MigrantInnen in Calais zu arbeiten, Hilfsprojekte in Marokko zu unterstützen oder Dokumentarfilme zu produzieren. Aus ihrem sozial-politischen Engagement heraus interessieren sie sich für Befreiungstheologie und für die Motivation der Leute, die bei diesem Forum versammelt sind – morgen muss ich unbedingt das Gespräch mit ihnen vertiefen.

Tag 6: Donnerstag, 10. Februar 2011

Auch heute waren wir im WFTL unter uns, arbeiteten in Gruppen und tauschten die Ergebnisse im Plenum aus unter der Fragestellung, was die Richtungen und Aufgaben für weitere Arbeit. Ich bin mit dem, was heute besprochen und erarbeitet wurde, sehr zufrieden; allerdings habe ich das Gefühl, dass diese Arbeit am Anfang des Forums hätte stehen müssen und dann im weiteren Verlauf des Forums die Ausarbeitung, vertiefte Analyse und vor allem die Auseinandersetzung mit dem lokalen Kontext und der Bewegung auf dem WSF stattgefunden haben könnte. Ganz froh bin ich auch, dass die Gruppenbeiträge, die präsentiert wurden, m.E. ziemlich weit entfernt waren von den abstrakten Grundsatzformulierungen auf den Podien der vorherigen Tagen. Vielmehr spiegelten die Beiträge wider, dass sie aus konkreten Kontexten erwachsen, dass eine fundierte Analyse wichtig ist und dass Pluralismus und Religion immer auch der Kritik unterworfen werden müssen, damit diese nicht (weiterhin) Ausbeutung und Unterdrückung unterstützen.
Unsere Arbeitsgruppe, mit dem Titel „Overcoming Empire“ hat eigentlich v.a. klassische befreiungstheologische Positionen bestätigt: ein klarer Standpunkt gegen das Empire (was die Option für die Armen / Ränder mit Bedeutung füllt), kritische Analyse (auf dem Stand der theoretischen Auseinandersetzung!), Verbindung zu und Engagement in Bewegungen und Kämpfen, und das Erkennen, Ausbauen und Imaginieren von alternativen Lebensformen und Strukturen, die dem Empire Kraft entziehen und die Gerechte Welt G*ttes bauen.
Die Erfahrung von gestern, dass es auch hier schwierig ist, sich angesichts der vielen „Sprachen“ und theoretischen und kontextuellen Referenzen zu verständigen, hat sich heute für mich weniger verwirrend oder bedrohlich dargestellt: auch aus der Analyse heraus, dass in den sozialen Bewegungen auch teils Spannungen bestehen zwischen Theorien und Utopien und dass es manchmal nötig ist, sich zu exponieren und Entscheidungen zu treffen, auf die Gefahr hin, dass die verwendete Theorie unzureichend ist, erscheint es nötig, mit dieser Pluralität zu leben und ihr womöglich eine theologische Sprache zu geben. Für mich ist da einerseits der Gedanke, dass wir in dieser Welt nur Stückwerk sehen, wichtig. Andererseits wurde die „epistemología del no saber“, die Epistemologie des Nicht-Wissens ins Spiel gebracht, die eine bestimmte Zurücknahme fördert. Zugleich ist es aber wichtig zu betonen, dass wir durchaus auch ein paar Stücke sehen, dass klar Stellung gegen das Empire bezogen werden muss, und dass auch einige positive Stücke – gerechte Geschlechterbeziehungen, solidarische Gemeinschaften, etc. – schon gesehen und ausgebaut werden müssen.
Andere Gruppen machten demgegenüber die Konzentration auf das Leben, das Losgehen von Erfahrungen des Körpers, von konkreten Begegnungen oder von Grenzüberschreitungen her stark.

Das Ende des Plenums habe ich nicht mitbekommen, da ich mit den muslimischen FreundInnen zu einer Diskussion von Ulrich Duchrow mit einem muslimischen Geistlichen aus Dakar in der Rosa-Luxemburg-Stiftung gehen wollte. Letztendlich haben wir davon kaum etwas mitbekommen, weil der Saal schon zu voll war, dafür habe ich heute Abend aber intensiv persönlich das Thema dieser Diskussion erlebt: christliche und islamische Befreiungstheologien, Allianzen und Perspektiven. Am Nachmittag hatten die Leute von Baraka schon ein Interview mit mir gemacht, welches, wie viele andere Interviews sowie Mitschnitte von den Sitzungen auch, bald auf ihrer Internetseite zugänglich sein wird. Und abends setzten wir unseren Austausch fort, was ich als sehr bereichernd empfand. Bisher habe ich mehr erzählt, aber auch das war sehr schön, einfach in ihre Offenheit hinein von meinen und unseren Erfahrungen zu berichten, biblische Geschichten und theologische Überzeugunen mit ihnen zu teilen. Ich hatte das Gefühl, dass ich keine andere Sprache sprechen muss, damit sie mich verstehen (na gut, ich musste französisch sprechen, aber theologisch habe ich nicht sonderlich anders geredet als sonst…), dass ich meine Tradition und Inspiration mit ihnen wirklich teilen kann.
Für mich bestätigte das, dass wir keine Meta-Theorie über Religionen oder einen post-religionalen Diskurs brauchen, sondern dass wir, wenn wir im gemeinsamen Engagement stecken, uns ganz natürlich verstehen und gegenseitig unterstützen. Was sie erzählten, über das Verhältnis zum Qur’an, über die Baraka, die Segenskraft, die eine ähnliche Funktion wie die heilige Geistkraft zu haben scheint, oder über den Drang nach Gerechtigkeit klang wunderschön und aufbauend. Besonders toll war, dass wir den Tag gemeinsam abschließen konnten, indem wir zum Dikr gingen: Dikr ist das Wiederholen des Namens Allahs, bzw. des Glaubensbekenntnisses und anderer Verse, das vor allem in Sufi-Traditionen ausgeprägt ist (und da der senegalesische Islam praktisch nur aus Sufi-Traditionen besteht, ist das hier auch besonders verbreitet). Hier war eine Gruppe von ca. 10 jungen Männern, die laut diese Verse sangen, über zwei Stunden lang und dabei eine trotz der Lautstärke sehr meditative Stimmung erzeugten.

Ich bin also ganz angetan von dieser Begegnung – ganz erfüllt von Geistkraft / Baraka – und ich hoffe, dass wir auch als Netzwerk, eine Zusammenarbeit mit ihnen finden können.

Tag 7: Freitag, 11. Februar 2011

„Meine Damen und Herren! Ich hab die Freude, ihnen mitzuteilen, dass Hosni Mubarak zurückgetreten ist. Das ägyptische Volk hat seinen Diktator vertrieben! […] Dies ist keine farbige Revolution, keine orangene oder grüne Revolution, diese Revolution ist ein klarer antiimperialistischer Sieg!“

Demo vor der ägyptischen Botschaft

Mit diesen Worten, die mit freudigem Jubel begrüßt wurden, begann die Abschlusskundgebung des Weltsozialforums heute Nachmittag. Wenige Stunden vorher habe ich mit den anderen Deutschen an einer Demo vor der ägyptischen Botschaft teilgenommen, wo wir Mubarak, barra barra (weg, weg!), und Liberté, liberté, pour le peuple égyptien! skandierten.
Im Gespräch über die Situation in Tunesien (und jetzt auch Ägypten), diskutierten wir diesen Punkt, ob es sich um einen antiimperialistischen Sieg handelt. Die Lage ist offen, wer die Macht übernehmen kann, noch unklar, und ob im Weiteren wirklich die politischen und auch ökonomischen Strukturen transformiert werden und nicht nur die politische Fassade geändert wird, wird sich erst zeigen. „Alles ist offen, aber man muss es unterstützen!“ meinte Michael Ramminger, und in gewisser Weise spiegelt dies meine Auffassung von Befreiungstheologie wieder: Theologie, die in jedem Fall Momente der Analyse und Reflexion braucht, muss sich aussetzen, muss sich konkret engagieren, muss eben auch zur ägyptischen Botschaft ziehen. In dieser Offenheit möchte ich auch die Erfahrungen der letzten Tage mit dem WFTL sehen: nicht immer ist klar, ob die theologischen Wege zu wirklich befreienden Zielen führen, aber es hilft nichts, darüber rein theoretisch zu diskutieren. Nur auf dem Weg, in ständiger kritischer Revision der Karten, der Fortbewegungsart und des Territoriums, kann Theologie getrieben, kann weiter gegangen werden!

Heute Vormittag tagten die letzten Assemblies of convergence. Leider war auch dies wieder von Chaos überschattet; gerne hätte ich an der Assembly über Bildung oder Information für eine andere Welt teilgenommen, konnte diese aber nicht finden, und habe schließlich bei einer Veranstaltung über Franceafrique, d.h. den Einfluss Frankreichs auf die Länder Westafrikas, angehört. In diesem Zusammenhang war heute auch eine große Präsenz von Leuten, die Unterschriften sammelten gegen die Einmischung in der Elfenbeinküste. Dieses schwierige Thema hatte ich hier vorher noch wenig mitbekommen.

Nach der Demo bei der ägyptischen Botschaft nahmen wir an besagter Abschlusskundgebung teil. Sonderlich groß war auch diese nicht, aber dank der guten Nachricht in bester Stimmung. Dort wurden ein paar selbstbestätigende Reden gehalten, aber auch einige der Assemblies berichteten bzw. stellten ihre Forderungen dar. Am konkretesten schien mir die Assembly of Migrants, die heute Vormittag auf der Ile de Gorée eine World Charter of Migrants unterschrieben hat. Überhaupt war das Thema Migration / Recht auf freie Zirkulation sehr präsent. Aus der Frauenversammlung habe ich gehört, dass es dort ziemliche Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen gab: während die einen wohl eher „klassisch“ feministische Anliegen vertraten (sexuelle und reproduktive Rechte), standen für andere Fragen nach Land und Nahrungssicherheit im Vordergrund. Dass es dazwischen anscheinend keine gelungene Kommunikation gab, ist ziemlich schade. Trotzdem hörte ich, dass ein gemeinsames Dokument erarbeitet wurde, welches hoffentlich auch öffentlich wird.

Abends wurde uns TheologInnen von unseren GastgeberInnen ein tolles Abschiedsfest bereitet, mit Chormusik und wunderbarem Essen. Dies war ein schöner Abschluss dieser gemeinsamen Woche. Ich bin gespannt, was der weitere Prozess des Theologieforums bringt! Ich beende hiermit meine Berichterstattung, ein Fazit folgt, wenn ich wieder in Deutschland bin, auf jeden Fall in Marburg!

Ich werde hier noch weiter den Austausch mit den muslimischen FreundInnen von Baraka pflegen und gemeinsam mit ihnen in die heilige Stadt Touba fahren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!