Interview mit Ivan Petrella

Es findet zur Zeit eine Diskusion im Befreiungstheologischen Netzwerk über dieses Interview statt. Von einigen wird das Engagement Petrellas bei der argentinischen Partei PRO äußerst kritisch gesehen. Weitere Infos folgen bald.

„Man sagte, dass sich die Befreiungstheologie in der Krise befand. Heute können wir sagen, dass es ihr besser geht als vorher.“

Ivan Petrella, Argentinier, ist in den USA einer der repräsentativsten Akademiker in Bezug auf die Arbeit über die Befreiungstheologie in Lateinamerika. Als Agnostiker und Doktor der Religions- und Rechtswissenschaften an der University of Harvard entwickelt er einen sehr orginellen Ansatz, wobei er verschiedene Disziplinen (Theologie, Philosophie, Rechtstheorie, Politikwissenschaften, u.a.) miteinander verknüpft und im Dialog mit den wichtigsten TheologInnen Lateinamerikas steht. Er ist Autor und Herausgeber verschiedener Werke über diese Themen, unter anderem:

Beyond Liberation Theology. A Polemic, London 2008.

The Future of Liberation Theology. An Argument and Manifesto, London 2006.

(Hrsg. u.a.): Another Possible World, London 2007.

(Hrsg.): Latin American Liberation Theology. The Next Generation, New York 2005.

In diesem Interview* stellt uns Petrella ein Panorama der Herausforderungen für die lateinamerikanischen Theologien in der Öffentlichkeit und der aktuellen theologischen Debatte vor.


Deine akademische Pilgerreise hatte ihr Zentrum vor allem in der Analyse der lateinamerischen Befreiungstheologien aus verschiedenen Blickwinkeln. Wie würdest du den aktuellen Status dieser Theologien beschreiben, sowohl im lateinamerikanischen Raum als auch auf globaler Ebene?

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie (Bth) und die Familie der Befreiungstheologien im Allgemeinen, waren die wichtigste theologische Strömung im 20. Jahrhundert und sind es auch jetzt noch im 21. Jahrhundert. Das ist der aktuelle Stand der Dinge. Am Ende der 80er Jahre, mit dem Fall des real-existierenden Sozialismus und auf Drängen des Vatikans (im Falle Lateinamerikas, wo die Mehrheit der „Gründer“ Priester waren) sagte man, dass die Bth sich in der Krise befand. Heute können wir sagen, dass es ihr besser geht als vorher. Warum? Einerseits gibt es ein größeres Spektrum an verschiedenen Personengruppen, die sie (weiter-)entwickeln: Laien, Frauen, Indigene, Personen mit verschiedenen sexuellen Ausrichtungen und sogar Agnostiker. Dieser breitere Fächer an gelebten Erfahrungen hat die Bth bereichert.
Andererseits gibt es auch ein größeres Spektrum an Schwerpunkten und Werkzeugen, die aus der Bth einen höher entwickelten Dikurs gemacht haben. Da gibt es z.B. die theologische Analyse der Ökonomie und anderer Sozialwissenschaften des Laien-Theologen Jung Mo Sung. Diese Art der Analyse, die er am DEI (Departamento de estudios e Investigacion) in Costa Rica ins Leben gerufen hat, praktizieren nun auch viele afine Theologen in den prestigeträchtigsten Universitäten und theologischen Seminaren der USA. Und da gibt es auch noch das revolutionäre Werk der tragisch verstorbenen Marcella Althaus-Reid, die Bth mit bisexueller und feminister Theorie verbindet um die sexuellen Grenzen nicht nur der Befreiungstheologie, sondern der Theologie an sich zu erforschen. Es ist ein Werk, das in den 70ern und 80ern undenkbar gewesen wäre, aber einen enormen Einfluss weltweit ausgeübt hat. Die Bth lateinamerikanischer Ausrichtung hat es geschafft, einen wichtigen Teil des theologischen Denkens in der reicheren Welt zu kolonialisieren. Sie ist ein Paradigma und eine unvermeidbare Kommunikationspartnerin für jeden Theologen, wo auch immer er sich befindet.
Meiner Meinung nach liegt die wichtigste Herausforderung darin, es zu schaffen, dass sich andere Disziplinen die epistemologische Revoution zu eigen machen, die charakteristisch für die Bth ist – der Versuch, Theologie aus Sicht der Armen zu denken und zu tun. Diese epistemologische Revolution muss nicht nur etwas sein, dass sich nur in der Theologie ereignet. Man kann sie auf die Ökonomie, die Politikwissenschaften, die Medizin, die Architektur, etc. anwenden. Ein Beispiel: Paul Farmer, einer der wichtigsten Mediziner und Anthropologen der USA benutzt die Bth, um sich neu in seinen Wissenschaften zu verorten. Er zeigt, genauso wie es in der Theologie geschehen ist, dass, wenn du die epistemologische Revolution auf die Medizin anwendest, sich nicht nur die Antworten ändern, sondern auch die Fragen, die du dir stellst. Sein Buch „Pathologies of Power“ ist von der Bth inspiriert. So widmet er ihr ein ganzes Kapitel und er inkorporiert die Option für die Armen in den Studienplan für die Medizinstudenten an der University of Harvard, wo er unterrichtet. Ich bin der Beauftragte der Gruppe der Bth der American Academy of Religion für die nächsten drei Jahre, wo Farmer ein Beispiel für eine Tendenz ist, die eine Schlüsselfunktion hat und die ich gerne anstoßen will.

In verschiedenen deiner Arbeiten hast du die Notwendigkeit hervorgehoben, den Begriff des „historischen Projekts“ in der Bth wieder stark zu machen. Welche Herausforderungen für die theologische Entwicklung in Lateinamerika bringt dieses Konzept an den Tag?

Man muss die Methodologie des Denkens wieder stark machen, die Platz geschaffen hat für den Begriff des historischen Projekts – die Vorstellung, unsere Ideale in Beziehung zu den möglichen institutionellen Umsetzungen zu denken. Uns allen gefällt die „Demokratie“. Aber in ihrer abstrakten Gestalt ist es schwierig, damit einverstanden zu sein. Um wirklich zu verstehen, was wir mit dem Konzept sagen wollen, muss man ihm einen institutionellen Inhalt geben. Handelt es sich lediglich um ein politisches Konzept, oder auch um ein ökonomisches? Was die Politik angeht, gehen wir nach Schumpeter, für den wichtig ist, dass alle paar Jahre Wahlen stattfinden oder streben wir nach einer größeren Beteiligung der Bürger? Wollen wir eine private oder öffentliche Finanzierung der politischen Kampagnen? Es gibt hunderte an Fragen, deren Antworten dem Konzept eine klare Gestalt geben.
Das verweist auf die alte Debatte zwischen José Miguez Bonino und Jürgen Moltmann, in der Bonino gesagt hat, dass man nicht verstehen könne, was Begriffe wie „Reich Gottes“ oder „Befreiung“ meinen ohne das historische Projekt, d.h. ohne die Institutionen, die der Idee eine Gestalt gaben. Dafür ist es notwendig, die institutionelle Entwicklung der theologischen Ideale nicht an eine zweite Instanz weiterzureichen, als wäre sie von weniger Interesse oder nicht unbedingt Teil der Arbeit eines Theologen. Das komplette Gegenteil ist der Fall. Die Ideale in Verbindung mit den Institutionen zu denken ist für den Theologen der Befreiung eine Art und Weise, dem Ideal eine größere Deutlichkeit und Eindeutigkeit zu geben. Es ist ein unvermeidlicher Teil der Theologie an sich.

Wenn sich die lateinamerikanische Theologie durch irgendetwas ausgezeichnet hat, dann durch ihre explizite Ausarbeitung und Anerkennung der Sozialwissenschaften für ihre Entwicklung, besonders gewisse philosophische und soziologische Systeme marxistischer Ausrichtung. Obwohl so eine Herangehensweise weit davon entfernt ist, aussen vorgelassen zu werden, da sie Gültigkeit auf etlichen Ebenen besitzt, glaubst du, dass neue epistemologische Rahmen benötigt werden?

Meiner Meinung nach bilden was man in den USA „kritische Rechtslehre“, „critical race theory“ und „latcrit theory“,die innerhalb der Rechtswissenschaften die Rahmen, die die Bth bereichern könnten. Die Kritik am Kapitalismus oder an der Globalisierung innerhalb dieser Strömung und anderer Ausrichtungen des linken Denkens gestaltet sich stets als sehr abstrakt, als ob der Kapitalismus ontologisch gesehen pervers und eine einzige Sache in der ganzen Welt darstellt. Ich glaube nicht, dass das so ist und auch nicht, dass so abstrakte Anklagen irgendetwas bringen.
Es gibt viele verschiedene Kapitalismen. Das nordamerikanische Modell unterscheidet sich vom schwedischen oder japanischen. Der Kapitalismus ist ein rechtlicher Rahmen. Daher hebe ich diese Strömungen innerhalb der Rechtsphilosophie hervor, da sie erlauben, eine punktuelle Analyse der Spielregeln – der rechtliche Rahmen – zu machen, die unausweichlich die Einen begünstigen und den Anderen schaden. Das ist es, was man auf konkrete Weise analysieren muss. Hand in Hand damit geht, spezifische Umbrüche auf nationaler, regionaler und globaler Ebene zu denken. Nur auf dieser Detail-Ebene können wir wieder unsere theologischen Ideale in Verbindung mit ihren institutionellen Verwirklichung denken.
Außerdem, um zu einer früheren Frage zurückzukehren, glaube ich, dass es grundlegend ist, die Option für die Armen (als den epistemologischen Rahmen) in andere Disziplinen zu übertragen. Sie sollte die Achse eines interdisziplinären Dialogs sein, der die Ökonomie, die Politikwissenschaft, die Medizin und andere Disziplinen einschließen sollte. Das sind Wissenschaften, viel mehr als es die Theologie ist, die darüber entscheiden, wer innerhalb des Status Quo lebt und wer stirbt. Ihren Schwerpunkt zu verändern, ist also eine unausweichliche Aufgabe.

Wenn ich richtig verstehe, hat deine Spezialisierung in der Beziehung zwischen Recht und Religion stattgefunden. Wie würdest du, im Großen und Ganzen, die Wichtigkeit des Religiösen auf dem Gebiet des Öffentlichen aus deiner Perspektive beschreiben?

Im Allgemeinen, in der liberalen politischen Theorie, so wie sie beispielsweise von John Rawls entwickelt wurde, will man die Religion in den privaten Bereich verbannen und sie vom öffentlichen Bereich fern halten. Man befürchtet einen destabilisierenden Effekt der Religion innerhalb des öffentlichen Bereichs, eine Furcht, die ein Erbe der Religionskriege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts ist und die verstärkt wird durch die Fundamentalismen, die heute die Welt geißeln.

Ich kann die Furcht nachvollziehen, aber der destabilisierende und letztendlich verändernde Effekt der religiösen Glaubensvorstellung kann auch positiv und ein Katalisator für die Entwicklung einer gerechteren Gesellschaft sein. Martin Luther King ist ein paradigmatisches Beispiel. Sein Kampf für die Farbingen in den USA ist unabtrennbar von seiner religiösen Überzeugung. Das „civil rights movement“ war eine religiöse und politische Bewegung. Die liberale politische Theorie lässt keinen Platz für einen solche Art von sozialer Bewegung. Natürlich neigt die Religion, intensiv glebt, zu Extremen. Auf der einen Seite stehen King und Ghandi, auf der anderen Osama Bin Laden.
Daher glaube ich, dass das Studium der Theologie fundamentale Bedeutung hat in der Welt von heute. Zumindest wegen zwei Gründen. Zunächst können wir nicht mehr weiterhin an den Begriff einer säkularen Gesellschaft glauben. Die berühmte These von der Säkularisiserung stellt sich als Fehler heraus, denn bis auf das westliche Europa wird die Welt immer religiöser. Zweitens zeigt sich, dass nicht so sehr die Religion eines bestimmten Akteurs im politischen und öffentlichen Bereich zählt, sondern viel mehr die Theologie, die ihn motiviert, d.h. die Interpretation der Religion, die diese Person determiniert und seine Ethik bestimmt. Die Religionen können eine beschleunigende Wirkung auf die Entwicklung des Demokratischen haben, a la Martin Luther King oder Ghandi, aber alles hängt von der Theologie ab, die ihre Anhänger motiviert.


Gibt es irgendeine Verbindung zwischen deiner aktuellen Arbeit in Buenos Aires und damit, dass du in den USA akademisch kürzer trittst?

Vor etwa sieben Monaten habe ich mir von der University of Miami die Erlaubnis geholt, das Amt des akademischen Direktors der Stiftung Pensar (Denken) zu bekleiden, das Institut für öffentliche Politik der argentinischen Partei PRO. Unsere Hauptaufgabe auf kurze Sicht besteht darin, die Pläne der nationalen Regierung der Partei zu entwerfen. Wir haben mehr als zwanzig Arbeitsfelder, einschließlich Erziehung, Gesundheit, Infrastruktur, Steuerpolitik, internationale Beziehungen etc. Jedes Arbeitsfeld hat einen Koordinator und ein Team, das die diagnostischen Arbeiten, konkrete Vorschläge für die Politik, Stellungnahmen und kurze Dokumente für die politische Leitung vorbereitet. Auf mittlere Sicht ist die Aufgabe, die programatische Plattform der Partei zu konsolidieren, um sie auf lange Sicht tragbar zu machen, damit sie nicht den Personalismen erliegt, die so sehr die argentinische Politik heutzutage bestimmen.
Mein Interesse an dieser, sowohl technischen als auch politischen, Arbeit, gründet in einem Wunsch, meinen kleinen Anteil zur Entwicklung des Landes beizutragen und in meiner Interpretation von dem, was die Bth fordert. Sie hat drei grundsätzliche Elemente. Erstens das epistemologische, in dem es darum geht, von denen, die weniger haben, her zu denken. Die epistemologische Revolution, wie ich bereits sagte, ist viel zu wichtig als dass sie nur in der Theologie bleiben könne. Andere Disziplinen müssen sie sich zu eigen machen. Letztendlich fordert uns die epistemologische Revolution dazu heraus, über die Theologie hinaus zu gehen und sich in andere Disziplinen einzumischen. Zweitens ist da der praktisch-moralische Imperativ, die theologischen Ideale in Verbindung mit ihrer institutionellen Verwirklichung zu denken, d.h. das ganze Thema des historischen Projekts. Wieder einmal sehen wir uns in der Pflicht, darüber hinauszugehen, so wie generell die Arbeit eines Theologen gesehen wird, und uns in andere Bereiche einmischen, vor allem in die vergleichende Politik und in die Rechtswissenschaften. Zuletzt ist da die metaphysische Interpretation der Moderne als abgöttisch (anstatt säkular). Aus dieser Interpretation leitet sich die Kritik am Götzendienst in der Ökonomie, als Neoliberalismus, etc., ab. Wir sehen wieder wie ein zentrales Element der Bth uns zu anderen Wissenschaften und Handlungsfeldern führt.
Ich erfahre den Übergang von der mehr akademischen Arbeit hin zur mehr praktischen und politischen Arbeit als sehr natürlich. Die Bth verpflichtet, sich in die Ökonomie, die Politikwissenschaft und die Soziologie einzuschalten und sie als wichtige Werkzeuge für ihre Entwicklung zu sehen. Von da aus ist der Schritt, sich um die öffentliche Politik in seinem Land zu kümmern und sie beeinflussen zu wollen, lediglich ein Schritt.

* Das Interview wurde von Nicolas Panotto, Direktor von GEMRIP (Grupo de Estudios Multidisciplinarios sobre Religión e Incidencia Pública – Multidisziplinäre Studiengruppe „Religion und Öffentlichkeitsarbeit“), geführt. Übersetzung für „Projekt Befreiungstheologisches Netzwerk“: Michael Martin Nachtrab.

Das Interview in Orginalsprache findet sich unter:

http://www.gemrip.com.ar/content/view/1/1/