Das Nein der Sarai

Eine Bibelstudie von Michael Nachtrab

Sarai fühlte sich kraftlos und schwach. Seit Tagen zogen sie, ihr Mann Abram, Lot und ihre Knechte wie eine kleine Karawane durch die Wüste Richtung Ägypten. Auch wenn die Reise lang, gefährlich und zermürbend war, so war der Hunger im Land doch größer und schwerwiegender als alle Gefahren auf dem Weg; und auch wenn Sarai große Bedenken hatte in Bezug auf die Reise, die doch mehr eine Flucht war, so schwieg sie doch immer still, als Abram von den Reichtümern und vollen Kornspeichern Ägyptens erzählte. Ohnehin war es ja der den Entschluss fasste und ihr “Nein” hätte sowieso kein Gehör gefunden.

Eines Nachts – Ägypten schien nicht mehr weit entfernt zu sein – nachdem sie wieder einmal das Lager aufgerichtet hatten und Sarai die spärlichen Vorräte und das, was sie beim Durchstreifen der Umgebung fand, für Abram, Lot und ihre Knechte zubereitet hatte, rief ihr Mann sie zu sich und sagte im üblich sanftem, aber doch bestimmenden Ton: “Ich weiß, du bist eine schöne Frau. Und wenn dich die Ägypter sehen, werden sie sagen: Das ist seine Frau! Und sie werden mich erschlagen und dich am Leben lassen. Sag doch, du seiest meine Schwester, damit es mir deinetwegen gut geht und ich um deinetwillen am Leben bleibe!” Mit diesen Worten wendete sich Abram von Sarai ab und gab so zu verstehen, dass dies keine Bitte, sondern ein Befehl war. In Sarai kochte und brodelte es, alles drehte sich und aus der Tiefe ihrer Seele stieg etwas aus ihrem Herzen durch die Lungen, die Luftröhre hinauf, passierte den Rachen und verhallte leise in ihrem Mund. Ihrem Mann vor all diesen Männern zu widersprechen, hätte im besten Fall schallendes Gelächter zur Folge gehabt. Das kraftvolle Nein, das von Herzem kam, war so nur noch als leiser Seufzer hörbar, doch selbst das nahm niemand im Zelt wahr.

Sarai konnte sie spüren, die Blicke der Ägypter – jeden einzelnen Blick, der sie – Abrams schöne Schwester, wie sie nun alle nannten – entblößen, jeglicher Würde und Persönlichkeit berauben wollte, um sie zur bloßen Hülle und zu  einem  bloßen Objekt zu machen. Währenddessen prahlte Abram geradezu mit ihrer Schönheit, so dass eines Tages eine handvoll Beamten des Pharaos auf den Rumor um diese schöne Ausländerin aufmerksam wurden. Nachdem sie Sarai von weitem besichtigt hatten, gingen sie zum Pharao, um ihm von der verführerischen, exotischen Schönheit der fremdländischen Frau vorzuschwärmen, die alle Abrams schöne Schwester nannten. So kam es, dass am nächsten Tag Abrams Lager besuchte, um die Ausländerin und ihren schönen Körper mit eigenen Augen und Händen zu begutachten. Sarai kämpfte mit ihren Tränen, ihrem Drang, sich zu übergeben und vor Scham in den Boden zu versinken, als ihr Mann Abram sie dem Pharao schmackhaft machte, ihre Schönheit  zu einer bloßen Oberfläche reduzierte, auf der Abram den Pharao herumführte, als handelte es sich um die Begehung eines Grundstücks – die mit einem Vertragsschluss per Handschlag zwischen den beiden Männern besiegelt wurde. Sarai sollte als schöne, fremdländische und exotische Perle in das Haus des Pharao gebracht und Abram mit Schafen, Kühen, Knechten und Mägden ausgestattet werden. Diese klare Win-Win-Situation wurde mit Wein begossen und da der Rausch und die Freude groß waren, hörte niemand das verzweifelte “Nein, ich will nicht” Sarais.

Sarai erduldete die ungezügelte und perverse Lust des Pharaos und die Gewalt mit der er in sie eindrang in der ersten und in den darauf folgenden Nächten; auch weil sie einsehen musste, dass je mehr Widerstand sie zeigte, desto mehr tat er und es ihr weh und desto mehr schien es ihn anzumachen. Sie erduldete es, aber gleichzeitig schrie nach und nach ihr ganzer Körper mit Leib und Seele “Nein”. Doch der Pharao hörte es nicht zwischen all dem Stöhnen. Er hörte es nicht, als er sie filmte und sie zu lasziven Posen zwang. Auch die, die das Video im Internet sahen, hörten das “Nein” nicht, das aus Sarais Augen schrie. Auch die, die nachts in das Haus des Pharaos kamen, um die exotische, hübsche Ausländerin  an der Stange tanzen zu sehen, hörten nicht Sarais “Nein”, weil die Musik zu laut und der Raum zu dunkel war. Niemand hörte ihr “Nein” – und niemand wollte es hören. Der hörende Gott aber schlug den Pharao und sein Haus mit großen Plagen wegen Sarais Wort, Abrams Frau. Denn Gott hörte das “Nein” Sarais, sowie er  einst das Blut des ermordeten Abels schreien hörte und wie er dann das Schreien der Unterdrückten in Ägypten hören sollte.

Und so gab der Pharao Sarai frei, doch er verstoß sie, Abram und Lot und alle Knechte und Mägde und das ganze Vieh, das Abram aufgrund des Menschenhandels mit dem Pharao erhalten hatte.

Und wenn Sarai heute in unsere Stadt, in unser Land kommt, als  schöne Hülle und exotisches Objekt verkauft wird, wenn wir Sarai in Videos und an Stangen tanzend und schwitzend sehen, hören wir ihr “Nein”? Hören wir es und stimmen mit ein in das “Nein” Sarais zu struktureller, physischer, psychischer, verbaler und sexueller Gewalt gegen Frauen. Denn nur wenn wir es hören und mit einstimmen, schaffen wir mit unseren eigenen Händen und unserer eigenen Stimme die Hoffnung des Advents – die Hoffnung auf die Gerechtigkeit und Liebe Gottes, die in Jesus Gestalt annahm.